Schülertexte

Hier finden Sie eine Auswahl an Gedichten und Geschichten, die im Rahmen der Projekt-AG entstanden sind. Die Anthologie "Schreiben gegen das Vergessen" mit sämtlichen Lyrik- und Prosatexten sowie Dokumentationen, Zeitzeugenberichten, Fotos und Illustrationen erscheint zur Buchpremiere am 19.8.2010.

Schreiben gegen das Vergessen: Prosa, Lyrik und Berichte - Texte von Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 8 bis 13 aus dem gleichnamigen Projekt, mit Fotos und Illustrationen, Herausgeberin Corinna Luedtke
Motu One Verlag, Laatzen, 2010, 164 Seiten, Paperback,
ISBN-10: 3981386604, ISBN-13: 9783981386608   9,90 €


Die Anthologie „Schreiben gegen das Vergessen“ ist ab dem 19. August über die Filialen der Buchhandlung Decius in Laatzen, Hannover und Garbsen sowie über Amazon und versandkostenfrei direkt über den Motu One-Verlag erhältlich. 




Was dann

von Marie-Carolin Lassan

Wenn der Schatten fällt, kehrt das Licht zurück?
Wenn das Leid endet, kehrt das Glück zurück?
Wenn die Vergangenheit ruht, kehrt das Leben zurück?



Manchmal

von Jessica Drews

Manchmal wünschst du dir den Augenblick,
den Augenblick so unbeschwert.

Manchmal wünschst du dir ‘nen andren Ort,
Den Ort, wo tausend Blumen blühn.

Manchmal wünschst du dir ‘ne andre Zeit,
Die Zeit, da alle glücklich sind.

Manchmal wünschst du dir ein andres Bild,
ein Bild mit bunten Farben drauf.

Manchmal wünschst du dir ein andres Lied,
Ein Lied voll Glück und Sonnenschein.

Manchmal wünschst du dir, du wärst der Wind.
Mal hier, mal dort, grenzenlos und frei.




Vakuum

von Johanna Schmidt

Das Meer peitscht gegen die Klippen
Wie salzig die Luft schmeckt
Langsam atme ich ein
Hinter mir höre ich schon die Kanonen
Vater, Mutter, sie rufen nach mir
Plötzlich wird es ganz still
Ich fühle nichts
Ich merke, wie die Erde bebt
Sie kommen, sie kommen
Im Herzen brennt die Welt
Um mich herum sehe ich Menschen
Unwirklich, kalt wie Stein
Ich versuche zu schreien, doch höre nichts
Unendlich langsam bewegt sich das Meer
Heute wird es Tag sein, ich werde frei sein
 „Freiheit“, flüstere ich
Und lasse mich fallen.




Schweigen über dunkles Treiben

von Anna Preißler

Stein auf Stein, Mauer um Mauer,
Die Wände werden zusehends grauer.
Man hört auch noch die Seelen weinen …
Schatten, die verfolgen einen.

Alles genommen, alles ist weg!
Kann mir einer sagen, mit welchem Zweck?
Welch Verbrechen wurde denn begangen?
Warum mussten alle um ihr Leben bangen?

Die Masse an Menschen blickt stur nach vorn,
Blicke, die tief das Nichts durchbohren.
Alle sind still, es herrscht langes Schweigen,
Ein langes, unangenehmes Schweigen über dunkles Treiben.

Dreh dich um und sieh zurück!
Führ dir vor Augen: Du hast Glück!
Schlimme Zeiten, die „waren“ zwar …
Doch immer bleiben sie uns nah!

Verbrechen, das ist untertrieben –
Umsonst bestraft mit deftigen Hieben!
Du denkst, du hast es heute schwer –
Kaum ein Mensch spricht … es ist zu lang schon her!

Lang her ist das Geschehene sicher nicht!
Nur heute fällt es nicht mehr ins Gewicht.




Ein Tag im Frühling

von Kerstin Lies

Wenn man ihn sich heute anguckt, ist er ein wunderschöner Ort.
Ein neuer Tag hat begonnen,
es ist Frühlingsanfang.
Der Weg führt mich durch die große Weidelandschaft.
Die Sonne steht senkrecht am Himmel,
die warmen Sonnenstrahlen berühren mein Gesicht.
Und gleichzeitig streicht ein sanfter Wind durch mein Haar,
während ich langsam Fuß vor Fuß setze.
Nur die Stille begleitet mich.
Zwischen den Gräsern vereinzelte Farbtupfer:
Rote Tulpen. Die ersten fangen an zu blühen.
Ja, es ist ein schöner Tag.
Man könnte meinen, dieser Ort wäre immer so gewesen wie heute.
Schön, friedlich, ruhig.
Aber das ist eine klare Täuschung.
Einmal wollte ich meiner Enkeltochter erzählen, was hier vor sich ging, was es mit diesem Ort wirklich auf sich hat.
Ich wollte ihr meine Geschichte nahebringen.
Es war im Januar und es lag Schnee.
Sie hatte sich entschlossen, mich zu besuchen.
Trotzdem scheiterte mein Versuch, es ihr zu erzählen.
Ihr sei zu kalt, schon nach zehn Minuten machte sie einen Aufstand, sie wollte nach Hause.
Dass es ihr dabei um einen minimalen Hauch von Kälte ging, dass sie Kälte verspürt hatte, die hier zu jeder Jahreszeit herrschte – ob im Winter oder im Sommer – war ihr nicht bewusst gewesen.
Tot, Leid, Elend.
Davon merkt man heute nichts.
Nur ein kleines Schild am Eingangstor weist auf die Vergangenheit hin,
auf die Geschichte dieses Ortes.
So wie die Erinnerungen.
Sie schmerzen immer noch.

Aber jetzt gehe ich meinen Weg.
Ich bin ihn hinausgegangen, denn nur er führt in die Zukunft.
Nur geradeaus, immer geradeaus. Darin lag unsere Hoffnung.
Sie machte uns stark. Sie hielt uns am Leben.
Manchmal werden Leute, unschuldige Menschen, aufgehalten,
auf einen anderen Weg gebracht, auf einen Weg gezwungen,
den sie sich nicht ausgesucht haben.
Entweder ist man stark genug und hat die Kraft zu kämpfen,
es irgendwie durchzustehen, oder diese Möglichkeit wird einem
von vornherein genommen. Peng.

Dieser unfassbare Ort möge mit seiner Vergangenheit einmalig sein.
All diese Orte mögen mit ihrer Geschichte einmalig bleiben.
Darin liegt meine Hoffnung.
Aber dafür ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema nötig.
Macht die Augen auf! Hört zu! Denkt nach!




Ein wunderbarer Tag

von Anne Voß

Sonne lacht dir ins Gesicht, Wind weht durch dein Haar;
Schäfchenwolken tanzen am Himmel.

Doch in dir Dunkelheit.
Wie ein Monster krallt sie sich in dir fest, zerfrisst dich.
Kalt. Ignorant. Unmenschlich.

Du bist allein.

Um dich herum: buntes Treiben.
Lachen, Musik, so vielfältig wie ausdruckslos.
Farben, so bunt, dass es schmerzt. Überall Menschen.
Kalt. Ignorant. Unmenschlich.

Dich verbindet nichts mit ihnen.
Fliehen?
Wohin?
Gibt es einen Ausweg?

Und ich? Was soll ich dir jetzt sagen? Was kann ich ändern?

Ich verrate es dir:
Ich bin da, denn ich bin anders.
Wir sind anders!

Lass uns fliehen – zusammen!
Lass uns laufen – so weit wir können!
Lass uns schreien – so laut es geht!

Lass uns jeden Tag genießen – weil wir Wirklichkeit sind.




Allein im KZ

von Marie-Carolin Lassan

– in Gedanken an eine Frau, allein im KZ, die ihren Geliebten verlor –
Ein Tag, gebrochen in Finsternis,
Durch mich zieht sich ein Riss.
Warum kommst du nicht?
Sieh in mein Gesicht.
Ich gehör nicht hierher.




Von der Fähigkeit zu träumen

von Jessica Drews

Alles, was mir bleibt in dieser schweren Zeit, sind die Träume. Kannst du das verstehen? Wie kann es sein, dass ich verlassen bin von all den Leu­ten, die ich liebe. Ich bin allein. Sie haben mich verlassen, aber unfreiwillig. Ich konnte nichts dagegen tun. Nur träumen. Wer nicht träumt, kann den Weg nicht gehen. Der gibt auf. Will nicht mehr. Ich war auch kurz davor aufzugeben. Doch dann kamen die Träume. Der Traum, über eine Wiese mit Tausenden von Blumen zu laufen. Der Traum, in die offenen Arme meiner Familie zu laufen. Der Traum, dass die Wirklichkeit nicht wahr ist.

Aber ich muss aufpassen, darf mich in dieser Traumwelt nicht verlieren, muss zurückehren in die Wirklichkeit. So gerne bliebe ich in meinen Träumen, sie geben mir Kraft. Kannst du das verstehen? Ich bin nicht mehr allein.
Ich höre Schritte.




Sommertag

von Julia Luedtke

Der Himmel ist blau.
Um mich herum ist alles still.
Es ist das erste Mal seit dem Krieg,
dass ich mich wieder alleine auf die Straßen traue.
Alles sieht anders aus als früher.
Wo damals ein wunderschöner Park war,
sieht man heute nur noch Schutt und Asche.
Alles erinnert mich an die schlimmste Zeit meines Lebens.
Ich versuche zu vergessen, doch das ist unmöglich.
Ich möchte am liebsten weg von hier,
doch selbst in meinen Träumen sehe ich,
wie Juden abgeführt werden.
Wie Kinder von ihren Müttern getrennt werden.
Diese Bilder bekomme ich einfach nicht aus dem Kopf.
Ich habe Angst.
Angst, dass sich so etwas Schreckliches wiederholen kann.




Fragen und Antworten

von Marie-Carolin Lassan

Über den Judenhass


Frage: Mutter, warum verfolgt H. die Juden?
Antwort: Ein anderes Mal.
Frage: Nein, jetzt! Warum?
Antwort: Was du wieder für Fragen stellst!
Frage: Nun sag es mir doch!
Antwort: Also gut, warum H. die Juden verfolgt …
Frage: Ja … ja, nun sag doch, Mutter.
Antwort: Er hat sie gehasst.
Frage: Gehasst?
Antwort: Ja, für ihn waren sie keine richtigen Menschen.
Frage: Keine richtigen Menschen?
Antwort: Nun ja, sie waren für H. eine „Rasse“, die er auslöschen wollte.
Frage: Das verstehe ich nicht.
Antwort: Ich auch nicht …


Über das Vergessen


Frage: Mutter, was können wir dagegen tun, dass alle vergessen?
Antwort: Was vergessen?
Frage: Na alles, was in der Vergangenheit geschah.
Antwort: Was genau?
Frage: Ja, zum Beispiel, das Böse, was den Juden angetan wurde.
Antwort: Ja …
Frage: Dass ein Mensch so viel Macht haben kann über andere Menschen wie H.
Antwort: Was kann man da tun?
Frage: Ja, das ist meine Frage!
Antwort: Solange es Menschen gibt, die sich erinnern, wird nichts vergessen.
Frage: Und wenn die nicht mehr da sind?


Über die Wahrheit


Frage: Ich traue mich nicht Mutter …
Antwort: Was ist passiert?
Frage: Ich möchte die Vergangenheit kennen, was aber, wenn die Wahrheit schmerzt?
Antwort: …
Frage: Mutter … was ist?
Antwort: Ich traute mich auch lange Zeit nicht zu fragen.
Frage: Und … ?
Antwort: Erfahren wirst du niemals die volle Wahrheit. Meine Mutter erzählte mir damals lange nicht alles. Es gab noch so viel mehr.
Frage: Erzählst du mir die Wahrheit?
Antwort: ...
Frage: Nicht?
Antwort: Sie hatte mich doch nur beschützen wollen …




Was gilt es?

von Anne Voß

Gilt es zu retten – den Ruhm und die Ehre?
Gilt es zu töten – den „Keim des Bösen“?
Gilt es zu hassen – anstatt zu lieben?
Gilt es zu leben – die Ideologie?

Gilt es zu resignieren – vor der Übermacht?
Gilt es zu tun – was andere wollen?
Gilt es aufzubegehren – gegen dunkles Treiben?
Gilt es zu laufen – weiter und fort?

Gilt es zu foltern – der Erniedrigung wegen?
Gilt es zu glauben – an Gott und Kirche?
Gilt es zu hassen – den Feind und den Krieg?
Gilt es zu herrschen – über die ganze Welt?

Gilt es zu ignorieren – das Elend vor dir?
Gilt es zu vertreiben – die schmerzenden Gedanken?
Gilt es zu öffnen – das Herz für die anderen?
Gilt es zu verstehen – was anderen wichtig ist?

Gilt es zu fühlen – mit Freund und Feind?
Gilt es zu hoffen – für Mut und Verstand?
Gilt es zu kämpfen – gegen Unrecht und Hass?
Gilt es zu lieben – Familie und Freund?

Nein! Es gilt zu beenden, was Menschen quält!




Daheim

von Johanna Schmidt

Wie viele wir waren, weiß ich nicht. Ich weiß nur noch, dass ich zwischen all den dürren Silhouetten nicht mehr aus dem Fenster hinaussehen konnte. Wie lange ich den Himmel nicht mehr sah, weiß ich nicht. Ich erinne­re mich nur an das Grau. Graue Wände, graue Luft, graue Leiber, graue Augen. Im Raum der süßliche Geruch. Verwesendes Fleisch, die Leichen stapelten sich zu Türmen. Hier lebten wir. Leben? Wir warteten. Warteten darauf, heimzukommen.
Zäh lag die Dunkelheit auf uns. Nur selten war so viel Licht im Raum, dass wir die Zahlen auf unseren Armen erkennen konnten. Ich hatte das Gefühl für die Zeit verloren. Es fiel mir schwer zu denken. Ich malte mir den Ster­nenhimmel an die kahlen Wände, flog durch das Universum, vollkommen frei. Ohne Fesseln, die mir ins Fleisch schnitten. Fliehen, fort von hier. Ich öffnete meine Augen, sah wieder nur das Grau, die fahlen Gesichter, und hörte die Schreie.
Und ich sah dich.
„Wann sind wir daheim?“ Ich deute auf die Leiber und sage: „Fast. Fast sind wir daheim.“ Deine kleine Hand legt sich auf meine Stirn. Dein bleiches Gesicht, so wunderschön, und wieder fragst du: „Wann? Wann sind wir daheim?“
Als ich über den Hügel gehe, finde ich mich in einem Raum wieder, furcht­bar groß für dich und mich. „Wann sind wir daheim?“, höre ich dich. Meine Lider sind schwer. Ich will nicht mehr sprechen, kein Wort soll deine Schön­heit stören. Ich lege mich auf den Boden. Du gräbst dich in mir ein, schläfst fest an meinem Herzen. Ich strecke meine Hand nach den Sternen aus. Um uns herum glätten sich die Wogen, im Herzen brennt die Welt. Heute tau­sche ich mein Leben gegen alle Träume. „Wann sind wir daheim?“
Die Hand von den Sternen zurück in den Staub. Ich werde mich nicht vom Fleck bewegen. Der Tod kennt keine Hast. Ich werde von Händen gepackt und fortgezerrt. Ich flüstere: „Fast sind wir daheim“, und weiß nicht, ob du es noch hörst.




Körper und Seele ...

von Anna Preißler

Ich sage: JA und AMEN!
Ich denke: Nein, um Gottes willen!

JA, ich kann das!
Wie geht das?

Mir geht es gut!
Ich kann nicht mehr …

Ich atme tief …
Ich ersticke gleich!

Ich helfe gern …
Wer hilft mir?

Was kann ich tun?
Nichts!

Ich stehe hier und arbeite. Jeder Handgriff sitzt. Es ist leicht und doch so schwer. Körperlich leicht, doch schwer für die Seele.
Sie stehen hinter mir. Sie sehen alles. Sie hassen mich. Ich hab keine Chance.
Ich hab keine Wahl. Ich tue, was sie von mir verlangen. Ich bin ihr Werk­zeug.
Eine Marionette an unsichtbaren Fäden. Wenn diese Fäden sich ver­knoten und die Marionette sich dem Meister nicht mehr fügen kann, wird sie entsorgt und ersetzt.

Kann man innerlich so stark sein, obwohl man äußerlich so schwach ist?
Der „richtige” Zustand eines Menschen ist die Gemeinschaft von Körper und Seele.
Man sieht einem Menschen an, wenn ihn etwas bedrückt. Man sieht ihm an, wenn es ihm besonders gut geht.  

Wenn einem aber der Körper entgleitet und einem selbst das Kommando darüber genommen wird, dann muss man einen außergewöhnlichen und starken Geist besitzen.
Eine so starke Seele, die das alles erträgt und stets neuen Mut schöpft.

Ich durfte einen solchen Menschen kennenlernen. Ich durfte seine Erfah­rungen mit ihm teilen. Seine Träume, Wünsche, den Glauben und seine Hoffnung.

Er konnte seine Seele von seinem Körper trennen. Er schaffte es, trotz sehr schlechter körperlicher Verfassung, seinen Lebensmut und Willen nicht zu verlieren. Ich erfuhr einen kleinen Teil seines Schmerzes, seines seelischen Schmerzes. Ich habe viel gelernt. Doch es gibt Dinge im Leben, die kann man zwar nachvollziehen, aber nicht begreifen.




Der Geburtstag 

von Andreas Arnold

... während der Nazi-Diktatur fanden über sechs Millionen Juden den Tod.
Darunter waren etwa 1,5 Millionen Kinder ...

Als Nathan am Morgen seines siebten Geburtstages erwachte, lag er zufrie­den in seinem Bett und genoss die Sonne, die durch das Fenster seine Na­senspitze kitzelte. Wochenlang hatte er sich auf diesen Tag gefreut und hatte manchmal nächtelang wachgelegen, um sich vorzustellen, wie dieser Tag wohl aussehen mag. Nun war er gekommen. Seine Mutter trat ins Zimmer und nahm ihn in die Arme.
Am Frühstückstisch saß die kleine Familie versammelt. Vater und Mutter machten freudige Gesichter und beim Anblick des ungewohnt reich gedeck­ten Tisches funkelten Nathans Augen. Es gab Rührei, Bohnenkaffee und den teuren Kakao, den er schon lange nicht mehr getrunken hatte, weil sich die Familie keinen Kakao leisten konnte. Nathan war bei aller Begeisterung auch etwas verwundert. Alle Geburtstage davor waren weitaus bescheidener ausgefallen. Normalerweise bekam er eine Tafel von der Schokolade, die er so gern mochte, und Vater machte sich nicht ständig Sorgen über den neuen Reichskanzler, der Hitler hieß und von dem Nathan wusste, dass er seine Eltern und ihn nicht sonderlich mochte. Warum, wusste er aber nicht. Jedenfalls war es für den Vater zur Gewohnheit geworden, morgens besorgt aus der Zeitung vorzulesen und ständig zu betonen, dass sie nicht anders seien als alle anderen Deutschen. Dass das nicht stimmte, wusste Nathan aber ganz genau. Denn sie waren Juden.
„Möchtest du noch einen Kakao?“, fragte Mutter. Dieses Jahr fiel auch alles andere viel üppiger aus. Die Großeltern schenkten Nathan eine Holzlokomotive, die er ganz besonders schön fand, vor allem, weil er noch nie so ein wertvolles Spielzeug besessen hatte. Von Mutter und Vater bekam er ein Bilderbuch und einen lieben Brief. Mutter hatte Tränen in den Augen, was er nicht begriff. Auch Vater wirkte bedrückt und sein Gesicht schien so alt und leer, dass Nathan beim Anblick erschrak. „Wir sind stolz auf dich, mein Sohn, mein großer Sohn“, sagte der Vater.
Nathan saß auf seinem Bett, blätterte in seinem neuen Bilderbuch und spiel­te mit der Lokomotive. Er stellte sich vor, wie sie alle drei in den Urlaub fuh­ren und die Landschaft bewunderten, die an den Fenstern vorbeirauschte.
Nathan durfte den Tag über so viel Kuchen essen, wie er wollte. Auch Kekse hatte die Mutter gebacken und nochmals süßen Kakao gekocht. Als er pappesatt war, setzte sich Nathans Mutter zu ihm.
„Möchtest du in die Ferien fahren?“
„Aber Mama, wir haben doch noch nie Ferien gemacht, wir haben doch kein Geld.“
„Dein Vater und ich haben beschlossen, dass du zu deiner Tante und deinem Onkel aufs Land fährst, es wird dir guttun, einmal aus der Stadt rauszukom­men, die Luft hier ist nicht gut für dich.“
Die Mutter hatte plötzlich wieder Tränen in den Augen, und obwohl Nathan sich vorhin noch danach gesehnt hatte, wollte er jetzt nicht wegfahren. Weg von zu Hause, weg von seinen Freunden, um allein zu Tante und Onkel zu fahren, die er kaum kannte. Das wollte er nicht.
„Es ist das beste, glaub mir.“
„Aber Mama, ich möchte nicht.“
„Du fährst heute Abend.“

Am Bahnhof stand der Zug. Der dunkle Rauch drang aus der schweren Lokomotive und schlug gegen die Bahnhofskuppel. Viele Kinder drängten sich um den Zug, aber Nathan betrachtete nur die schwarze Lokomotive. Ein weißer Reichsadler, der ein Hakenkreuz umkrallte, hob sich bedrohlich von der Schwärze ab. Nathan fiel keinerlei Ähnlichkeit mit seiner Lokomotive auf. Es ertönte ein Dröhnen, das ihm Angst machte. Nathan schrak zusammen und verlor den Brief, den ihm seine Eltern beim Aufbruch nochmals in die Hand gedrückt hatten.
„Alles einsteigen!“, sagte der Schaffner. Überall standen Soldaten. Die Mutter hob den Brief auf und gab ihn ihrem Sohn.
„Lies ihn auf der Fahrt. Verlier ihn nicht.“
„Werd‘ ich nicht, bestimmt nicht!“, versprach er fest. „Mama, ich will da nicht rein!“
„Es ist sicherer für dich.“
„Wir sehen uns doch bald wieder ... oder?“
„Ja mein Sohn, bald“, sagte der Vater.
„Ich will nicht!“
„Steigt endlich ein!“, schrie der Schaffner nun mit hässlicher Stimme.
„Ich will nicht, Mama!“
„Es ist besser so.“

Nathan stieg ein. Die Tür klappte laut und fest zu und die Eltern schie­nen fern zu sein, obwohl er sie noch durch das Fenster sehen konnte. Sie winkten und sie weinten. Von der Freude und Heiterkeit, die Nathan noch vor zwei Stunden gefühlt hatte, war nichts mehr geblieben. Der Zug setzte sich in Bewegung. Nathan erhaschte einen letzten Blick auf seine Eltern am Bahnsteig, bis sie hinter einer schwarzen Rauchwolke verschwanden.
„Es ist besser so“, schwirrten ihm die Worte seiner Mutter durch den Kopf.




Zeitreisen (Ausschnitt)

von Efi Dermitzaki

Nach den Erzählungen von Salomon Finkelstein anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz. Diese Geschichte widme ich den Holocaustüberlebenden Salomon Finkelstein und Henry Korman.
Es war ein Morgen wie jeder andere. Salomon spürte, wie die warmen Son­nenstrahlen seine Haut sanft berührten. Es war Zeit, die Federn zu verlas­sen. Ein neuer Tag in dem Leben des 80-jährigen Mannes. Voller Energie stand er auf und blickte aus dem Fenster seines Apartments, welches sich in der Upper East Side, Manhattan, New York City befand. Aus dem 15. Stock konnte er ganz Manhattan überblicken – jeder Platz, jede Ecke, jeder kleinste Winkel wurde von der strahlenden Sonne beleuchtet. Welch ein schönes und friedliches Bild. Er liebte Manhattan mit seinen Skylines und all seinen Farben und Facetten. Während er sich einen Kaffee kochte, schaute er die Morgennachrichten und wartete gespannt auf den Wirtschaftsteil. Er liebte es, die Aktien der New Yorker Börse zu verfolgen.
Noch mehr freute er sich auf den Besuch seiner Tochter und Enkelkinder. Sarah war seine einzige Tochter und bedeutete ihm alles. Seine Frau war bereits vor einigen Jahren gestorben und es blieben ihm nur noch die Erin­nerungen an seine einzige, große Liebe.
Mit einem Mal hörte er Rufe vor seiner Tür: „Grandpa, Grandpa, wir sind’s, David und Adam! Mach uns auf, sonst sind wir gleich weg.“ Das war der 13-jährige David gewesen. Salomon lächelte. „David, hab etwas mehr Respekt vor deinem Opa! Er ist nicht mehr jung und das weißt du!“, hörte er seine Sarah noch sagen, als er die Tür öffnete. Sofort warfen sich die Jungs um seinen Hals und knuddelten ihn.
Er war stolz auf die beiden Jungs. Der 7-jährige Adam war dieses Jahr einge­schult worden, dabei kam es Salomon vor, als wäre die Geburt erst gestern gewesen. David war dagegen schon auf dem Weg zum Mann, durch sein Fußballtraining hatte er einen muskulösen Körper bekommen.
„Grandpa! Ich bin so aufgeregt wegen morgen. Ich hab solche Panik“, er­zählte David, an einem großen Bagel kauend. „Grandpa, Grandpa! David ist ein Angsthase“, rief der kleine Adam. Sarah schüttelte nur den Kopf und führte ihren Vater ins Wohnzimmer, wo es sich alle gemütlich machten. „Was ist denn morgen für ein Tag? Ist etwas Besonderes?“, scherzte Salomon und zwinkerte Sarah zu. „Grandpa, sag nicht, du hast es vergessen! Gut, dass ich gekommen bin, um dich daran zu erinnern. Morgen ist meine Bar-Mizwa-Feier. Wehe, du vergisst es und kommst nicht!“, sagte David mit leicht zornigem Blick. Salomon nahm daraufhin seinen kleinen Rebell auf den Schoß und versicherte ihm: „Ich würde niemals den wichtigsten Tag im Leben meines Enkels vergessen. Ich werde der Erste in der Synagoge sein.“ Mit diesen Worten schaffte er es, David zu beruhigen. Dieser schaute zufrie­den und kaute weiter an seinem Bagel.
„Grandpa, Grandpa, ich habe gestern in Englisch ein A bekommen!“, sagte Adam. Salomon nahm den kleinen Jungen in den noch freien Arm und lächelte. „Mum, ich kann nicht mehr essen! Du hattest recht, ich hätte doch lieber den kleinen Bagel nehmen sollen. Ich werfe den Rest weg“, sagte er und war schon auf dem Weg in die Küche, als Adam schrie: „Nein! Nicht wegwerfen! Andere Menschen haben kein Essen und müssen hungern.“
Mit einem Schlag war Salomon weit weg. Er befand sich nicht mehr in Manhattan, innerhalb von Zehntelsekunden reiste er ganze Jahrzehnte zu­rück. Er hatte das warme, vertraute und farbenfrohe New York verlassen und befand sich an einem Ort des Grauens. Er hörte wieder qualvolle Schreie, roch den Gestank von Verwesung. Es war der Geruch des Todes, der gekom­men war, um sie zu holen. Er fühlte den eiskalten Steinboden unter seinem zitternden, halbnackten Körper. Er sah die ausgehungerten Menschen und das Leid und Elend in ihren Gesichtern. Er spürte seinen leeren Magen, der vor Hunger schmerzte. Dieser Schmerz versetzte ihn in Trance. Er befand sich wieder in Auschwitz. Alles war wieder da. Alle seine Sinne nahmen es wahr. Er durchlebte in diesem Moment, der nur zwei Atemzüge dauerte, Jahre der Gefangenschaft und Folter. Salomon hatte versucht, das Erlebte zu verdrängen, doch es holte ihn wieder ein, alles war schlagartig wieder da …

Wie es weitergeht mit Salomon und Sarah, erfährt man in der Anthologie.




Das Tagebuch der Erna Silberstein (Ausschnitt)

von Marius Schlüwe

Vier Uhr am Nachmittag. Ich hatte meine Hausaufgaben gerade erledigt, als es an der Tür klingelte. Ich lief die Treppe hinunter und ließ Sarah ins Haus. Wir steuerten schnurstracks den Dachboden an.
„Hast du auch so ein mulmiges Gefühl in der Magengegend?“ fragte sie mich.
„Ja, irgendetwas zwischen Neugier und Ungewissheit, aber ich will jetzt wis­sen, was in dem Buch steht, für mich gibt es kein Zurück. Wenn du willst, kannst du es dir noch anders überlegen.“
„Nein, wo denkst du hin! Wir machen das jetzt!“
In diesem Moment war ich umso froher über ihren Beistand. Glücklicher­weise lehnte die Leiter, die ich gestern aus dem Keller geholt hatte, immer noch an der Wand unter der Luke zum Dachboden. Ich fixierte sie vorsich­tig und stieg die Sprossen hinauf. Sarah folgte mir. Erneut musste ich inne­halten, um mich an das dunkle Licht zu gewöhnen und um abzuwarten, bis sich der aufgewirbelte Staub ein wenig gelegt hatte. Dann zog ich mich komplett auf den Dachboden und ging in Richtung der Mundharmonika, der Luke und des Buches. Sarah folgte mir wenige Augenblicke später. Auch sie brauchte einige Sekunden, um sich an die Lichtverhältnisse und die nach Holz und Staub riechende Luft zu gewöhnen. Ich deutete auf die Luke und sie nickte. Ich öffnete sie und genau in dem Moment, in dem ich das Buch greifen wollte, ertönte ein lauter, schriller Ton.
„Mensch, die funktioniert ja noch!,“ rief Sarah, als ich mich umdrehte.
Sie hatte die Mundharmonika entdeckt.
„Sag mal, hast du sie noch alle? Mich so zu erschrecken!“  
„Tut mir leid. Ich hab nur die Mundharmonika hier liegen sehen und wollte ausprobieren, ob sie noch funktioniert. Ich wollte dich wirklich nicht er­schrecken.“
„Mann, du hast echt ein Rad ab. Können wir jetzt vielleicht das Tagebuch anschauen?“
„Ja natürlich, entschuldige.“ Ich nahm es heraus, öffnete es und warf einen fragenden Blick auf Sarah. Sie nickte.
„Nun gut, dann wollen wir mal“, sagte ich und las vor:

Tagebuch von Erna Silberstein.

16. Dezember 1942.

Liebes Tagebuch,
ich werde nur einen Eintrag machen. Gestern habe ich einen Stift und dieses zer­fetzte, leere Buch gefunden. Ich habe beschlossen, das Erlebte aufzuschreiben. Ich muss es unbedingt erzählen, es ist alles so schrecklich. Ich bin jetzt 22 Jahre alt. Vor ungefähr acht Jahren fing alles an. Mein Vater durfte nichts mehr aus seinem Laden an seine ursprünglichen Kunden verkaufen. Meine Freunde wandten sich von mir ab. Ich durfte nicht mehr auf den Spielplatz. Dann mussten wir eine Armbinde mit einem Stern drauf tragen. Wir wurden beschimpft, beleidigt und schikaniert. Weil wir anders waren. Weil wir Juden waren.
In letzter Zeit ist alles noch schlimmer geworden. Sie haben erst Mama mitge­nommen, dann meinen Bruder Justus und jetzt Papa und mich. Meinen Sohn Samuel konnte ich noch rechtzeitig den Nachbarn übergeben. Ich hoffe, sie wer­den gut für ihn sorgen.

Ich schluckte. Mir wurde bewusst, dass hier die Rede von meinem Großva­ter war. Warum hatte er mir das nie erzählt? Hat er das vielleicht gar nicht gewusst? Das werde ich wohl nie erfahren, denn er ist vor einigen Jahren gestorben. Vielleicht wissen Mama und Papa etwas darüber.
„Lies weiter!“, unterbrach Sarah meine Gedanken.
Um sie nicht zu verärgern, las ich weiter.

Nach Auschwitz bringen sie uns, haben sie gesagt. Wir haben uns gewehrt, aber sie haben uns geprügelt und in einen Zug gesteckt. Ich verlor die Besinnung und als ich wieder aufwachte, befand ich mich auf einem großen Feld voll mit hoff­nungslosen Menschen, Verwundeten und Leichen. Ich zitterte am ganzen Kör­per. Blut, Hass und Tod konnte man hier spüren. Überall und jederzeit. Papa war weg. Meine Mundharmonika war das einzige, was mir geblieben war. Das ist nun ein halbes Jahr her. Ein paar Tage nach meiner Inhaftierung spielte ich eine Melodie auf meiner Mundharmonika. Einige SS-Soldaten hörten das und kamen auf mich zu. Ich dachte, nun ist es aus, doch zu meiner Verwunderung gefiel es ihnen. Sie sagten, ich könne ab sofort immer spielen, wenn die anderen Juden zum „Duschen“ gingen. Dort sei immer so eine miserable Stimmung, ich könne das ein wenig unterhaltsamer gestalten, sagten sie. Hinter vorgehaltener Hand wurde erzählt, dass der Gang zum Duschen den Weg in den Tod bedeute­te. Wer in die Duschkammern ging, wurde danach nie wiedergesehen. Ab sofort musste ich den anderen ihr letztes Lied spielen. Es war grausam. Ich konnte weiterleben, weil den Soldaten meine Musik gefiel. Irgendwann hasste ich mich dafür, doch was sollte ich tun? Sollte ich mich hinrichten lassen? Aufständische wurden je nach Laune der Nazis zu Tode geprügelt oder sofort erschossen.
Gestern habe ich wieder gespielt und dabei in die resignierten Gesichter der in der Schlange stehenden Menschen geschaut. Da erkannte ich meinen Vater!
Ich hatte ihn schon für tot gehalten und jetzt stand er da. Er sah so geschwächt aus, so leer. Als unsere Blicke sich trafen, leuchteten seine Augen für einen Mo­ment auf. Mit stummer Geste fragte ich ihn, ob ich helfen solle. Aufspringen, versuchen ein Gewehr zu klauen, die Soldaten anbetteln oder sonst irgendetwas. Doch er bedeutete mir, nichts zu tun. Mit den Lippen formte er lautlos: „Spiel“. Wahrscheinlich glaubte er, ich würde mich selbst in Gefahr bringen. Er hatte recht. Es gab keine andere Möglichkeit. Und so spielte ich meinem Vater sein letztes Lied, während mir lautlos Tränen über die Wangen liefen. Ich erfüllte seinen letzten Wunsch und musste miterleben, wie er in die Kammer gestoßen wurde.
Ich hasse mich dafür! Letzte Nacht plagten mich die ungeheuerlichsten Schuld­gefühle und ich habe beschlossen, dem endlich ein Ende zu setzen. Ich kann das nicht mehr. Ich werde keine Musik mehr spielen und nie mehr mit ihr die hämische Freude der Schweine unterstützen. Ich verabscheue mich dafür, dass ich es überhaupt getan habe. Das ist das letzte bisschen Widerstand, den ich noch leisten kann. Ich werde jetzt dieses Buch und meine Mundharmonika vergraben und mich dann in den elektrischen Sperrzaun am Rande des Lagers werfen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod.

Erna Silberstein

Die vollständige Geschichte von Marius Schlüwe ist unserer Anthologie zu lesen.




Mein Herz verschlossen (Ausschnitt)

von Dimitra Dermitzaki

Es war ein warmer Samstagnachmittag und ich wählte den Weg durch die Innenstadt, den ich sonst vermied. Ich kam am Kino vorbei. Vor dem Ein­gang blieb ich stehen und schaute mir sehnsüchtig das riesige Gebäude und die Filmplakate an. Wie gerne wäre ich in das Kino gegangen, vor dem SS-Männer standen. Als ich gerade weitergehen wollte, kam eine Gruppe junger Männer aus dem Kino. Mein Blick fiel sofort auf den größten und blondesten unter ihnen. Es war Raphael.
Ich schaute ihn von Weitem an. Er bemerkte mich nicht sofort, doch als er mich sah, lief er überrascht und lächelnd zu mir herüber.
„Hallo Maria!“ Er war begeistert, mich zu sehen. „Wie geht es dir?“
„Hallo Raphael.“ Ich war plötzlich ganz schüchtern. „Gut und selbst?“
„Ja, mir geht es immer gut.“ Er grinste. „Warst du auch im Kino?“
„Ja“, log ich.
„Ehrlich? Ich habe dich nicht gesehen.“
Ich zuckte mit den Achseln und hoffte, dass er nicht weiter nachfragen würde.  
„Es sind die ersten warmen Frühlingstage, wollen wir morgen zusammen in den Park gehen?“, fragte ich schnell.
„Ja, gute Idee.“ Er strahlte mich an.
„Also dann morgen im Park. Selbe Uhrzeit?“
„Selbe Uhrzeit“, stimmte er zu und kehrte zu seiner Gruppe zurück.

Also trafen wir uns am Sonntagnachmittag im Park. Beim Anblick der anti­semitischen Schilder fing mein Selbstbewusstsein an zu schwinden.
„Parkbänke nur für Arier reserviert“ war eine der diversen Aufschriften der Nationalsozialisten. In den Park durfte ich also noch gehen, aber mich nicht auf die Bänke setzen. Da das Wetter so schön war, gingen wir lange spa­zieren und fanden ständig neue Gesprächsthemen. Dieser Nachmittag ließ mich für kurze Zeit vergessen, dass wir Krieg hatten.
Ab diesem Tag trafen wir uns regelmäßig, entweder im Park oder am na­hegelegenen See. Ich bekam langsam ein schlechtes Gewissen, schließlich log ich ihn an und verheimlichte, dass ich jüdisch war. Ich beschloss aber, vorerst noch nichts zu sagen.

An einem sehr warmen Tag im August trafen wir uns wieder an der Kreu­zung, die auf der einen Seite zum See führte und auf der anderen Seite in die Innenstadt. Dieser Tag würde anders werden, das spürte ich schon, als ich Raphael von Weitem kommen sah.
Wie so oft gingen wir erst durch das Stadtviertel, in dem am meisten los war, und danach zum See. Raphael war wieder einmal in eine seiner langatmigen, witzigen Erzählungen vertieft, als ich einen älteren Mann bemerkte. Er ging einen Meter vor uns mit seiner Zeitung in der Hand auf dem Fuß­gängerweg. Plötzlich wurde er von einem der Gestapomänner angehalten und nach seinem Ausweis gefragt. Als er ihm diesen zeigte, schlug der Gestapomann auf ihn ein. Raphael zog mich weg, er wollte, dass wir weitergin­gen, weil er mir noch den Schluss seiner Geschichte erzählen wollte. Aber mir war überhaupt nicht mehr nach lustigen Geschichten zumute. Dieser Mann wurde in aller Öffentlichkeit gedemütigt, geschlagen und gezwun­gen, den Gehweg zu verlassen. Weil er ein Jude war.
Ich ging schneller, um nicht sehen zu müssen, was weiter geschah. Ich wollte verdrängen, dass mir das gleiche passieren konnte, jederzeit und überall. Im Moment war ich noch in Raphaels Begleitung und ich wollte nicht, dass er möglicherweise auf diese Weise erfahren würde, dass ich Jüdin war.
Auf dem Weg zum See kamen wir an einem Jungen vorbei, der durch die Stadt lief und das neue Tagesblatt anbot. Raphael kaufte eins und überflog die Neuigkeiten. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, ich wusste nicht, warum.
„Du wirkst so wütend. Was ist los?“, fragte ich ihn, als wir am See angelangt waren.
Er lehnte sich gegen einen schattenspendenden Baum. „Ich hab es einfach satt.“
„Was hast du satt?“
Es ging um das, was er kurz zuvor in der Zeitung gelesen hatte, da war ich sicher.
„Das, was alles gerade passiert! Der Krieg! Sieh dir doch an, wie schlecht es unserem Land geht. Es steht in der Zeitung! Es sollte uns gut gehen! Hitler hat uns so viel versprochen, aber im Moment sieht es nicht danach aus, als würde er seine Versprechungen einhalten können.“ Er schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Als Raphael Hitlers Namen aussprach, bekam ich eine Gänsehaut. Um mich zu beruhigen, atmete ich langsam tief ein und aus. „Hast du ihm ge­glaubt?“
Er straffte seinen Körper und trat nah an mich heran. „Du etwa nicht?“
„Ich … ich beschäftige mich nicht sonderlich viel mit Politik“, log ich.
„Das ist natürlich schlecht.“
„Vielleicht kannst du mich darüber informieren?“
„Das geht schneller. Wir sind im Krieg gegen Polen. England und Frank­reich sind mit Polen verbündet, also sind wir auch gegen England und gegen Frankreich. Seit Anfang dieses Jahres hat unsere Wehrmacht auch Norwe­gen und Dänemark besetzt. Unser Führer wird Deutschland mächtiger ma­chen.“
„Ist dies sein einziger Plan?“, wagte ich die eine offenkundige Antwort zu provozieren. Doch statt einer Antwort erhielt ich einen überraschten Blick.
„Was genau meinst du?“, fragte Raphael ein wenig misstrauisch.
„Ist es nicht ebenfalls sein Ziel, die Juden zu vertreiben?“ Ich drehte mich um und zeigte auf die mit antijüdischen Schildern beschlagenen Bänke.
„Hitler will ein reinrassiges Deutschland. Und die Juden gehören nun mal nicht dazu.“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Du siehst die Frage nach der Rasse also als Rechtfertigung für das un­menschliche Verhalten den Juden gegenüber? Beispielsweise die Demüti­gung dieses jüdischen Mannes vorhin in aller Öffentlichkeit?“
„Sie sind halt keine natürlichen Deutschen, keine Arier eben. Ist das nicht Grund genug?“
Ich schluckte und wusste nichts mehr zu sagen. Ich dachte an die letzten Wochen, die Leichtigkeit unserer Gespräche, den Zauber zwischen uns.
Er runzelte argwöhnisch die Stirn. „Wieso regst du dich überhaupt so auf? Bist du etwa auf der Seite der Juden?“ Er zischte das Wort „Juden“ und ließ es wie ein Schimpfwort klingen.
Ich konnte ihn nicht anschauen und schüttelte nur abwehrend dem Kopf. Ich wollte, dass wir aufhörten, darüber zu reden.
„Nein, nein, auf keinen Fall“, sagte ich leise. „Aber ich habe ohnehin nicht so viel Ahnung von Politik, wie ich schon sagte.“
„Wenn du nicht viel über Politik weißt, dann aber doch deine Eltern?“ Er sah mich erwartungsvoll an.
„Ich weiß es nicht.“ Das war nur zur Hälfte gelogen, denn ich wusste es wirklich nicht, nur dass sie gegen den Nationalsozialismus und Hitler wa­ren, das war sicher.
Sein Blick schien mich zu durchdringen und ich konnte überhaupt nicht vorhersehen, was er gerade dachte oder fühlte.
Raphael seufzte und schaute auf den See. „Ich muss jetzt gehen.“
Ich warf ihm einen überraschten Blick zu. Noch nie war eine unserer Verab­redungen so kurz gewesen.
„Sehen wir uns morgen?“, fragte ich leise, als er sich zum Gehen abwandte.
Er drehte sich nur ein wenig zu mir um, schaute mich aber nicht an. „Nein, lieber nicht. Vielleicht ein anderes Mal.“
Eine ganze Weile stand ich dort alleine unter dem Baum und schaute ihm nach, selbst dann noch, als er bereits verschwunden war. Das Rauschen der Blätter holte mich zurück in das Jetzt. Ich versuchte nicht lange über das nachzudenken, was gerade passiert war und machte mich auf den Heimweg. Ich glaubte, dass dies unser letztes Treffen gewesen war.

Wie es mit Maria und Raphael weitergeht, erfährt man in unserer Anthologie.




Schnee trägt rote Mützen (Ausschnitt)

von Svenja Fischer

für Oma,
weil die Erinnerung bleibt

INTRO
Papa, Mutti, Walter, Marta, Erwin, Christa, Paul, Dorchen – eigentlich ja Dorothea –, Irmgardt, Erna, Waltraud, Käthe.
Allein war ich nie. Bis jetzt. „Sei still“, hatte er gesagt. „Halt bloß die Klap­pe!“ Er hatte Tränen in den Augen. „Rühr dich nicht“, hatte er geflüstert. „Schließ am besten die Augen, aber schlaf nicht ein und bleib genau hier sitzen.“ Das „hier“ hatte er besonders betont. Er wusste, ich würde es nicht wagen, die kleine Grube in der Erde zu verlassen, in die er mich hinein­chauffiert hatte.
Nichts konnte ich besser. Bloß die Klappe halten, still sein, die Augen ver­schließen, ganz fest. So hielten es auch die Erwachsenen – fast alle, die ich kannte. Die Augen verschließen. Und nichts, wirklich nichts konnten sie besser.
Er hatte mich allein gelassen. Es ist eisig kalt. Die Grube, in der ich sitze, ist fast genauso klein wie ich. Das ist nicht eine der tollen Gruben, die ich von zu Hause kenne. Die Gruben, in denen ich Stunden verbringe, um Burgen aus Sand zu bauen.
Nein. Ich wage es nicht, mich zu bewegen. Wie lange ich schon hier sitze, das habe ich bereits vergessen. Vielleicht drei Stunden, vielleicht vier, viel­leicht aber auch nur zwei oder zweieinhalb ...
Meine Ohren frieren und mein Gesicht, meine Hände, meine Finger, Bauch, Beine, Füße, Zehen. Die Geräusche sind noch ganz weit weg, ein fernes Donnern, aber doch nahe genug, um ihr schreckliches Ausmaß zu erahnen. Der Russe, der Russe. Ich drücke mein Gesicht ganz fest in meinen Schoß, presse meine Augen zu. So sehr Angst habe ich. Doch ich öffne meine Au­gen wieder. Vielleicht aus Furcht vor der noch viel einsameren Dunkelheit, vielleicht aber auch, weil eine besonders weiche Schneeflocke meine Nase berührt. Ich blicke in die verschneite Winterwelt, doch kein Licht in den Häusern, keine Kerzen in den fernen Fensterbänken. Leere, überall, in allen Winkeln.
Selbst der Boden vor mir ist nicht mit den Fußstapfen spielender Füßchen übersät. Stattdessen trägt der Schnee rote Mützen. Schnee trägt rote Mützen. „All das Rot hatten die Menschen verloren, die von den braunen Männer in den Urlaub geschickt wurden“, erklärte Papa. Doch ich verstehe nicht, weshalb sie sich so sehr dagegen gewehrt hatten, denn ich, ich wollte schon immer einmal in den Urlaub fahren. Ich fragte mich generell, weshalb die Juden in den Urlaub fahren sollten, wenn alle unsere Lehrer immer sagten, es würde sich bei ihnen um böse Menschen handeln. Da böse Menschen normalerweise nicht belohnt werden, denke ich, dass Vater da etwas falsch verstanden haben muss. Meine Geschwister bekommen nämlich niemals eine Belohnung, wenn sie einander schlagen. Warum wehren sich die Juden gegen die braunen Männer? Warum? Was haben diese Männer gegen die Juden?
„Wir schreiben das Jahr 1945. Den 3. Februar. Mein Name ist Gerda, ich bin zwölf Jahre alt und Deutsche“, hatte er immer wieder wiederholt, damit ich es mir merkte.
Aber wie sollte ich das auch vergessen. Es gibt doch so vieles, was ich nie mehr vergessen werde: Die letzten Jahre.
Er hatte doch versprochen, wieder herzukommen. Wo bist du?
Elende Tiefe, ein Loch namens Seele. Und elende Enge, eine Grube – unser Keller.
Acht Tage, acht unendlich lange, unausstehliche Tage. Belastend und zugleich sicher. Dass die Russen inzwischen vor den Toren unserer Stadt stehen, nicht sonderlich weit weg, raubt mir den Atem. Kälte, und mir bleibt die Luft weg. Eine beklemmende Ohnmacht, die Realität kompakt verschnürt, sozusagen, denn unaufhaltsam durchdringt die Ohnmacht alle quälenden Wahrheiten.
In eine Grube hineinchauffiert sozusagen.
So allein war ich noch nie.


Wie es mit Gerda weitergeht, ist in unserer Anthologie zu erfahren.




Gedanken zur Stellung des Holocausts

in der jüngeren Geschichte

von Carolin Arlt, Lara-Carolin Knie, Annalena Schäfer und Jennifer Wasmund

„Nach Auschwitz ist alles nur ein Versuch.“ (Eli Wiesel)
In unserer Schulzeit sind uns die Verbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere der Holocaust ein ständiger Unterrichtsbegleiter geworden. Von daher hatte sich schon beinahe etwas wie eine Übersättigung einge­stellt, die fast eine innere Abwehrhaltung hervorbrachte, nach dem Motto: „Das weiß ich doch schon alles!“
Doch die Mitarbeit am Projekt „Schreiben gegen das Vergessen“ hat uns andere Formen der Auseinandersetzung mit diesem Thema ermöglicht. Der Besuch der historischen Stätten des Verbrechens, das Kennenlernen heuti­gen jüdischen Lebens und insbesondere die Begegnung mit den Zeitzeugen Salomon Finkelstein und Henry Korman haben uns einen neuen Zugang möglich gemacht. Die Gespräche mit S. Finkelstein und H. Korman haben uns unmittelbar mit den Schicksalen der Juden in den Konzentrationsla­gern konfrontiert. Diese Form von Auseinandersetzung mit dem Holocaust ging weit über den bisherigen Unterricht hinaus und hat uns neben den geschichtlichen Fakten persönliche Erfahrungen und die damalige Weltan­schauung der Nationalsozialisten nähergebracht, die für uns heute unver­ständlich – wir möchten sagen fremd - ist und auch bleiben wird.
Hinzu kam, dass wir uns vom Religionsunterricht her mit der Theodizee­frage beschäftigen mussten und ganz konkret mit der christlichen und jüdi­schen Theologie nach dem Holocaust. Dabei war zunächst die Frage nach der Bedeutung des Holocausts zentral.
Warum soll der Nationalsozialismus für die Geschichte der Menschheit von so elementarer Bedeutung sein? Es ist nachvollziehbar, dass der Holocaust für die deutsche Geschichte und für das Judentum einen Einschnitt – eine katastrophale Zäsur – bedeutet. Dass der Holocaust aber neben einem Bruch in der Geschichte, sogar das „Ende der Moderne“ markieren sollte, schien zunächst übertrieben. Immer wieder gab es und gibt es zahlreiche Kriege, denen Millionen von Opfer zu Tode fallen. Wieso also der Holo­caust als einschneidendes Schlüsselereignis, an dem der Übergang von einer geschichtlichen Epoche zur nächsten festgemacht werden soll? Beginnt mit dem Holocaust wirklich die Postmoderne?
Die Moderne beginnt mit der Aufklärung, deren Ideale in der französischen Revolution umgesetzt wurden: Alles menschliche Leben – ob privat oder politisch – wird von der Vernunft her betrachtet und die Menschen erheben den Anspruch, dass sie an eben dieser Vernunft gemessen werden wollen. Die Vernunft ist der Kompass. Tradition und Herkunft dürfen nur dann Bestand haben, wenn sie der Vernunft stand halten können. Der Mensch als Träger der Vernunft muss nur dieser inneren Stimme seiner Natur folgen und die Gesellschaft, ja die Welt entwickelt sich zum Guten. Die Mensch­heit geht einer goldenen Zukunft entgegen, so die Vision der Aufklärer.
Wir wissen aber, dass diese Vision ein Trugschluss war. Der von allen Bin­dungen, von aller Tradition entfesselte Mensch setzte zu einem Höhenflug an – genannt seien die modernen Wissenschaften oder auch unsere kom­plexen, undifferenzierten Staatswesen – aber das, was der Mensch daraus machte waren Kriege, Imperialismus und Rassenkämpfe. Entgegen dem Anspruch der Vernunft.


Der vollständige Text ist in unserer Anthologie zu lesen.




Mein Resümee

von Björn Schneeberg

Recht plastisch erschienen mir der Nationalsozialismus und das Thema Ho­locaust, als ich es in der Schule behandelte. In der 6. Klasse kam ich das erste Mal mit diesem dunkelsten Zeitabschnitt Deutschlands in Berührung. Das Thema zeigte Präsenz in allen Jahrgangsstufen und wird im „Gesellschafts­wissenschaftlichen Profil“ besonders detailliert behandelt. Bestückt mit ei­ner Menge Sachwissen stand ich da und habe mir eingestehen müssen, die Geschehnisse dieser Zeit wohl nie ganz begreifen zu können.
Umso interessierter war ich, als ich von der von Frau Luedtke ins Leben gerufenen Arbeitsgemeinschaft „Schreiben gegen das Vergessen“ hörte, in welcher diese sensible Thematik mit Hilfe von Zeitzeugen aufgearbeitet und veranschaulicht werden sollte. Fasziniert von dem Konzept, schloss ich mich diesem vielversprechenden Projekt an.
Die für mich eindrucksvollsten und bewegendsten Momente waren die Gesprächsrunden mit den Zeitzeugen, wie Helga Fredebold, Henry Kor­man und Salomon Finkelstein. Diese sehr emotionalen und informativen Gespräche beschäftigten mich auch noch im Alltag über das Projekt hinaus. Die unfassbaren Ereignisse der Zeit des Holocausts bekamen plötzlich Ge­sichter und Bilder, die vor meinem inneren Auge erschienen. Nicht selten verließ ich bewegt und zu Tränen beschämt den Klassenraum.
Im Rahmen des Projekts besuchten wir unter anderem die Gedenkstätte Ahlem sowie viele Mahnmale und Museen in Berlin. Eindrucksvoll war für mich auch der Besuch der jüdischen Gemeinde in der Haeckelstraße in Hannover. Anschaulich wurde uns dort der jüdische Glauben näherge­bracht. Mittlerweile hat das Projekt „Schreiben gegen das Vergessen“ weite Kreise gezogen und Interesse bei vielen regionalen Institutionen und Orga­nisationen geweckt, welche uns auch gerne unterstützt haben.
Im Zuge der Besichtigung der „Stolpersteine“ in Gleidingen, die von Herrn Bürgermeister Prinz begleitet wurde, rückte die Geschichte der Judenverfol­gung nah an meine Haustür heran. Dies machte mir die Schicksale einiger jüdischer Familien in Gleidingen noch bewusster.
Zum Schluss unserer Projektarbeit hat uns Herr Gelderblom aus Hameln in Form eines Vortrags seine Recherchen über Zwangsarbeit und Verschlep­pung jüdischer Familien im Landkreis Hameln-Pyrmont zur Zeit des Na­tionalsozialismus dargelegt.
Zurückblickend auf das Projektjahr muss ich sagen, dass die von mir in der Schule erworbenen traurigen Fakten in anschaulichster und interessantester Weise ergänzt wurden. Das war eine einmalige Möglichkeit, mit Zeitzeugen in Kontakt zu treten und ich werde die Eindrücke, die ich in dieser Zeit gewonnen habe, nie vergessen.
Persönlich möchte ich meinen Teil dazu beitragen, dass sich solche Gescheh­nisse nie wiederholen.